Im Dezember 1970 wurde in zahlreichen Städten Hessens erstmals ein „Tag des ausländischen Mitbürgers“ veranstaltet. Gemeinsam von den Evangelischen Kirchen, den katholischen Diözesen und der Arbeiterwohlfahrt organisiert, sollten Veranstaltungen die Öffentlichkeit auf die bislang wenig beachteten Probleme aufmerksam machen, mit denen die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien hatten. In den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung rückte dabei ein Vorfall, der sich bei den Rödelheimer Barackenunterkünften der Frankfurter Baufirma Holzmann abspielte und als „Holzmann-Skandal“ über die hessischen Grenzen hinaus Wellen schlug.
Was war geschehen? Nachdem ihnen mehrfach Klagen ausländischer Arbeitnehmer über die Wohnsituation und Lebensumstände im Lager Rödelheim zu Ohren gekommen waren, hatte eine Delegation katholischer und protestantischer Geistlicher die dortigen Verhältnisse persönlich in Augenschein nehmen wollen, war aber von der Lagerverwaltung brüsk abgewiesen worden. Die Kirchenmänner mussten verärgert wieder abziehen. Das Bauunternehmen sah sich darauf in der Presse heftiger Kritik ausgesetzt. Frankfurts Oberbürgermeister, bisher in der „Gastarbeiter“-Frage nicht übermäßig aktiv, ließ die Barackenunterkunft durch die städtischen Polizei- und Ordnungsbehörden untersuchen; zwei Magistratsbeamte erstatteten Anzeige wegen Mietwuchers. Die Stadtverwaltung setzte einen „Ausschuss für ausländische Arbeitnehmer“ ein, der aus kommunalpolitischer Sicht über die grundlegenden Fragen der Arbeitsmigration beraten sollte. Man wollte auf diese Weise Handlungs- und Reformbereitschaft signalisieren.
Versuche der Firma, die Wogen zu glätten, bewirkten nur wenig. Tatsächlich waren die Lebensbedingungen in dem Lager vielfach unwürdig: Drei bis vier Männer teilten sich ein Zimmer von 16 qm, für knapp 700 Arbeiter standen acht Duschen und fünf Warmwasserleitungen zur Verfügung, eine rigorose Hausordnung erinnerte an geschlossene Anstalten. Dass Holzmann nicht das einzige Unternehmen war, in dessen Sammelunterkünften solche Umstände angetroffen wurden, machte die Sache nicht besser. Der städtische Untersuchungsbericht gelangte nach Auskunft des Presseamtes „zu dem Schluß, daß alle derartigen mit einfachen Mitteln erstellten Barackenunterkünfte – es gibt rund 220 davon allein in Frankfurt – auf einen unvoreingenommenen Betrachter trist, deprimierend, ja sogar abstoßend wirken müssen.“ Immerhin lebte Anfang der 1970er Jahre die Hälfte aller Arbeitsmigrant:innen in Werksunterkünften, allermeist ähnlichen Wohnlagern oder auch Wohnheimen, und wo die Migranten stattdessen Privatwohnungen angemietet hatten, zahlten sie für eine unzulängliche Unterbringung in miserablem Zustand vielfach deutlich überteuerte Mieten.
Die mediale Berichterstattung über den „Holzmann-Skandal“ ist vor allem deshalb interessant, weil sie über den Vorfall hinaus Einblicke in eine Reihe von grundlegenden Entwicklungen eröffnet, die sich in der bundesdeutschen Migrationsgeschichte an der Wende zu den 1970er Jahren abzeichneten. Dazu gehörte etwa, dass die in der Medienöffentlichkeit lange vorherrschende harmonistisch-folkloristische Berichterstattung zunehmend durch kritische Reportagen über die Lebensumstände der Arbeitsmigranten abgelöst wurde und dass das „Gastarbeiterproblem“ zunehmend als Infrastrukturproblem wahrgenommen wurde, bei dem es darum ging, in den Alltagssphären von Schule, Wohnung und sozialer Betreuung neue Strukturen zu schaffen, die auf eine langfristige Integration in das gesellschaftliche Leben ausgelegt waren. Dazu zählte aber auch, dass sich verstärkt zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen für die migrantischen Interessen einzusetzen begannen und dass in dem Maße, wie deutlich wurde, dass viele Arbeitsmigranten, statt in die Heimat zurückzukehren, dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben würden, aus dem politischen Seitenthema der „Gastarbeiterpolitik“ ein Konfliktstoff von wachsender Bedeutung wurde.
Die Presseberichterstattung über den „Holzmann-Skandal“ 1970 kann so als Exempel genutzt werden, um an einem Ereignis mit eher episodischem Charakter übergreifende Zusammenhänge aus der Geschichte der Arbeitsmigration in Hessen vor Augen zu führen. Ein im Sommer 2023 am HIL angelaufenes Quelleneditionsprojekt, das vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst angestoßen wurde und von der Landesregierung finanziert wird, hat sich zum Ziel gesetzt, an Beispielen wie dem geschilderten ein umfassendes Bild der Geschichte der Arbeitsmigration in Hessen nach 1945 zu zeichnen. Neben einer wissenschaftlichen Quellenedition beabsichtigt das Forschungsvorhaben, einen digitalen Auftritt im Rahmen von LAGIS zu erstellen. Hier soll dann die Stimme der Migranten selbst besonderes Gehör finden. Für Hinweise auf Selbstzeugnisse und Quellenbestände, die die eigene Wahrnehmung und Problemsicht der Migrant:innen widerspiegeln, sind die Projektmitarbeiter deshalb jederzeit dankbar (Kontaktadresse: rudloffw@uni-marburg.de).