Podiumsdiskussion am 19. September

Neue Perspektive auf Migration und Einwanderungsgesellschaft

Zweitägige Veranstaltung im Landgrafensaal des Staatsarchivs Marburg am 19. und 20. September 2024

Am 19. und 20. September 2024 fand im Landgrafensaal des Staatsarchivs Marburg eine Fachtagung zum Thema „Abgrenzungen, Verflechtungen, Aufbruch? Neue Perspektiven auf Migration und Einwanderungsgesellschaft in Geschichtswissenschaft und Public History“ statt. Die Tagung wurde vom HIL in Verbindung mit dem Institut für Hessische Landesgeschichte der Philipps-Universität Marburg und der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte der TU Dresden organisiert. Finanziert wurde sie vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur im Rahmen eines derzeit am HIL laufenden Forschungsprojektes zur Arbeitsmigration in Hessen nach 1945. Zwei Tage lang wurde aus einem historischen Blickwinkel über ein Thema diskutiert, das für die Selbstwahrnehmung der bundesdeutschen Gesellschaft gegenwärtig von grundlegender Bedeutung ist. Wohl nicht zuletzt deshalb waren neben den Vertreter:innen der historischen Migrationsforschung in größerer Zahl auch Studierende und interessierte Bürger:innen der Einladung gefolgt, an der Tagung teilzunehmen und mitzudiskutieren. 

Für das HIL begrüßte Holger Th. Gräf als kommissarischer Direktor die Tagungsteilnehmer:innen und zeichnete die Hintergründe und Absichten des laufenden Migrationsprojektes nach. Die einzelnen Panels waren mit ausgewiesenen Forscher:innen aus der Fachwelt der historischen Migrationsforschung besetzt. Eine erste Runde befasste sich mit konzeptionellen Fragen, wobei die Ordnungs- und Erschließungskraft von Analysekategorien wie Recht, Sprache und Mobilität im Mittelpunkt stand. Christoph Rass (Osnabrück) und Isabella Löhr (Potsdam) brachen eine Lanze für einen konstruktivistischen und sprachanalytischen Zugang im Sinne der „reflexiven Migrationsforschung“. Stephanie Zloch skizzierte einen weiten, an die „mobility studies“ angelehnten Mobilitätsbegriff, der für die Migrationsforschung fruchtbar gemacht werden kann. Ein anschließendes Panel erschloss aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Arbeits- und Lebenswelten von Menschen mit Migrationsgeschichte. Der Vortrag von Jeannette van Laak (Halle) über das Selbstverständnis von DDR-Zuwanderern ermöglichte vergleichende Blicke auf eine bedeutsame Migrantengruppe der alten Bundesrepublik, mit dem übergreifend anschlussfähigen Befund des Fremdseins als einer fortwährenden Grundbefindlichkeit. Knud Andresen (Hamburg) machte mit den Ergebnissen der historischen Forschung zur Stellung der Arbeitsmigrant:innen in Arbeitsleben und Betrieb vertraut. Olga Sparschuh (Wien) schlug eine Zwei-Phasen-Differenzierung für die italienische Arbeitsmigration vor und plädierte dafür, die späteren Perioden italienischer Migration stärker in ihrer Verflechtung mit der Geschichte der europäischen Integration zu betrachten. Christoph Lorke (Münster) spürte am Beispiel von Ostwestfalen-Lippe den Besonderheiten der Migration im klein- und mittelstädtischen Raum nach.

Bei einem von Sabine Mecking moderierten Podiumsgespräch verknüpften die drei Podiumsgäste ihre biografische Erfahrungen als Kinder von Arbeitsmigrant:innen sehr anschaulich mit Gegenwartsanalysen und aktuellen Bezügen aus ihren jeweiligen beruflichen und politischen Tätigkeitsfeldern. Es waren dies Ayşe Asar, ehemalige Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Robert Erkan, Opferbeauftragter der Stadt Hanau nach dem Anschlag von 2020, und Luigi Masala, Integrationsbeauftragter der Stadt Offenbach. Alle drei Gäste betonten aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen die Zentralität von Schule und Bildung für die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

Am Freitag schlossen sich drei weitere Sektionen an. Ein erstes Panel befasste sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Themenkomplex Jugend, Schule und Freizeit. Phillip Wagner (Halle) argumentierte, dass sich in der Frage der politischen Bildung für ausländische Jugendliche schon in den 1960er- und 1970er-Jahren kontroverse Standpunkte herausgebildet hatten, als sozial-liberale Landesregierungen darüber diskutierten, ob und inwieweit „Gastarbeiterkinder“ in den Schulen demokratische Denk- und Handlungsweisen erlernen sollten. In einer fruchtbaren Vergleichsperspektive fragte Max Schellenbach nach den dominanten Kategorisierungen und Differenzlinien, welche die Sozialarbeit in England und der Bundesrepublik aufgriff, um migrantische Jugendliche als öffentliche Problemfigur von Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft – und ebenso migrantische Jugendliche untereinander - abzugrenzen. In England, so lautete ein Ergebnis, war die Hauptfarbe (black/white) als Differenzlinie bestimmend, migrantische Jugendliche in Deutschland verorteten sich primär entlang ethnisch-nationaler Differenzkriterien.

Den politischen Partizipations- und Handlungschancen der Migranten und ihrer Selbstorganisationen nachzugehen, war Ziel einer weiteren Sektion. Dabei standen sich in den Vorträgen von Caner Tekin (Bochum) und Grazia Prontera (Salzburg) zwei politische Handlungsmodelle von unterschiedlicher Stoßrichtung gegenüber. Tekin schilderte die migrantischen Kämpfe um das Kommunalwahlrecht in Hessen und erschloss damit die Zielperspektive einer gleichberechtigten staatsbürgerlichen Teilhabe im Rahmen der bestehenden Institutionen kommunalpolitischer Willensbildung. Prontera stellte hingegen mit Blick auf das differenzierte Akteursfeld der italienischen Selbstorganisationen in München den dortigen Ausländerbeirat als einen zwar nicht mit Entscheidungsrechten ausgestatteten, deswegen aber keineswegs unwirksamen Einflussfaktor im ausländerpolitischen Interessenfeld vor. Nick Wetschel (Dresden) gab im Anschluss am Beispiel Dresdens aufschlussreiche Einblicke in das Wirken des Ausländerbeirats und der Ausländerbeauftragten in der Transformationsperiode der neuen Bundesländer ab 1990.

Eine letzte Sektion befasste sich mit der Frage, wie die Geschichte der Arbeitsmigration in der bundesdeutschen Erinnerungskultur abgebildet wird und welche Formen der symbolischen Repräsentation im öffentlichen Raum bestehen. Stefan Zeppenfeld (Bochum) demonstrierte am Beispiel der migrantischen Fußballvereine die Herausforderungen und Chancen der Citizen Science. Hilke Wagner (Gießen) gewährte Einblicke in ihr laufendes Forschungsprojekt zum Selbst- und Geschichtsverständnisses “Heimatvertriebener“ im Rahmen der digitalen Medien – ein neues, weithin unerschlossenes Untersuchungsterrain. Den Abschluss bildete ein weitgespanntes Referat von Stephan Scholz (Oldenburg), das sich mit  den Analogien und Differenzen, Korrespondenzen und Wechselwirkungen in der öffentlichen Denkmal- und Erinnerungskultur für die verschiedenen Zuwanderungsgruppen befasste, damit aber auch die Frage nach einer Verknüpfung dieser Ansätze zu einem gemeinsamen Selbstverständnis der Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft aufwarf.

Zu den Ergebnissen der Tagung zählte unterm Strich so auch die Erkenntnis, dass es weiterhin fruchtbar bleiben dürfte, dem charakteristische Spannungsverhältnis nachzugehen, das zwischen dem fortwährend Prozess der Konstruktion, Ausdifferenzierung und Abgrenzung von Migrant:innengruppen und dem gleichzeitigen Befund vielfältig übergreifender Gemeinsamkeiten, Verflechtungen und Analogien im migrantischen Erfahrungshorizont besteht. Und Gleiches lässt sich für ein weiteres Spannungsverhältnis sagen, das auf der Tagung zum Vorschein kam: den Kontrast zwischen staatlicher Steuerung und migrantischer agency, zwischen rechtlicher Regulierung, kultureller Zuschreibung, epistemischer Kategorisierung einerseits und migrantischer Selbstwahrnehmung und migrantischem Eigensinn andererseits.

Wilfried Rudloff

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