Reges Interesse an der Tagung zu den „Zwischenanstalten“ der nationalsozialistischen Krankenmorde
Am 14. und 15. September 2023 veranstaltete das HIL die öffentliche Fachtagung „Zwischenanstalten. Ein besonderer Typus Anstalt im Nationalsozialismus?“. Im Zentrum standen die „Zwischenanstalten“, welche während der „Aktion T4“ die Ursprungsanstalten mit den Tötungsorten verbanden und in zahlreichen Fällen auch nach dem Stopp des zentralisierten Mordens zu Orten des gezielten Tötens und Sterbenlassens wurden.
Die Relevanz des Themas spiegelte sich nicht nur im großen Interesse der mehr als 70 Teilnehmenden, sondern auch in der Anwesenheit von Angela Dorn, der hessischen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, wider. Sie begrüßte die anwesenden Wissenschaftler:innen, Vertreter:innen von lokalen Gedenk- und Erinnerungsinitiativen, Studierenden sowie interessierten Bürger:innen im Landgrafensaal des Staatsarchivs in Marburg und betonte die Verantwortung der Nachgeborenen für die Erinnerung an das gravierende Unrecht in der NS-Psychiatrie sowie die wichtige Funktion der historischen Forschung und Vermittlung für eine starke Demokratie.
Anschließend wurde zwei Tage lang intensiv über die Organisation und Durchführung der NS-„Euthanasie“ auf regionaler und lokaler Ebene diskutiert. Die Organisator:innen der Fachtagung hatten es sich zum Ziel gesetzt, das Spezifische der „Zwischenanstalten“ vor, während und nach den zentral organisierten Massenmorden an psychisch kranken Menschen regional vergleichend zu untersuchen. In insgesamt zehn Vorträgen befassten sich die Referent:innen mit den Patient:innen, mit der Dynamik von Vernachlässigung und Tötung innerhalb dieser Anstalten sowie mit den Wechselbeziehungen der Anstalten und Kliniken verschiedenen Typs untereinander. Immer wieder rückten dabei sowohl die Lebensschicksale der psychisch Kranken und die Verhältnisse in einzelnen Einrichtungen als auch die Zusammenarbeit der maßgeblichen Akteure innerhalb des Tötungsnetzwerkes des „Dritten Reichs“ in den Fokus.
Zunächst stellte Prof. Dr. Sabine Mecking das seit Sommer 2021 am HIL laufende Forschungsprojekt zur NS-„Euthanasie“ in Hessen vor, und weitete den Blickwinkel auf die übergeordnete Leitfragen der Tagung. Anschließend sprach Dr. Peter Sandner in einem Einführungsvortrag über das Netzwerk und die Aufgaben der 25 im Deutschen Reich bestehenden „Zwischenanstalten“.
Im ersten Panel konzentrierten sich die Referenten PD Dr. Georg Lilienthal, Dr. Steffen Dörre und Hagen Markwardt M.A. auf die „Zwischenanstaltspatient:innen“, die auch noch nach dem Stopp der „Aktion T4“ eine besonders vulnerable und vom Tod bedrohte Patientengruppe darstellten. Mit Blick auf die „Zwischenanstalten“ in Hessen und Sachsen zeigten sie die fließenden Übergänge zwischen der Vernachlässigung der Kranken und ihrer gezielten Ermordung. Am folgenden Tag wurden im zweiten Panel diese Aspekte der Patient:innenhierarchie und Ressourcenkonkurrenz weiter konkretisiert. Anhand der „Zwischenanstalten“ Zwiefalten, Linz und Brandenburg-Görden zeigten Prof. Dr. Thomas Müller, Dr. Bernd Reichelt, Dr. Uwe Kaminsky, Dr. Axel Hüntelman und Markus Rachbauer M.A., dass diese psychiatrischen Einrichtungen zu zahlreichen anderen Aufgaben als der Versorgung der psychisch Kranken herangezogen wurden. Die Einrichtung von Reservelazaretten, Ausweichkrankenhäusern, Schulungsheimen, Forschungseinrichtungen u.v.m. erzeugten im Kriegsverlauf zunehmend eine Dynamik mit tödlichen Folgen für die psychisch Kranken. Im dritten Panel kehrten die Referent:innen wieder zum hessischen Raum zurück. Dr. Moritz Verdenhalven erläuterte die Beziehungen der „Zwischenanstalten“ zu den Universitätskliniken am Beispiel der Frankfurter Universitätsnervenklinik. Franziska Schmidt M.A. zeigte an den „Zwischenanstalten“ der Tötungsanstalt Hadamar, welche unterschiedlichen Formen die Zusammenarbeit der Anstalten annehmen konnte. In einem abschließenden, breit diskutierten Beitrag, untersuchte Tobias Karl M.A. die verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung um ein angemessenes Erinnern an die NS-Krankenmorde und die Herausbildung einer opferzentrierten Erinnerungskultur zur NS-„Euthanasie“.
Durch die Tagung konnten wichtige Schneisen zum Anstaltsnetzwerk um die „Tötungsanstalten“ geschlagen werden. Insgesamt wurde deutlich, dass die „Zwischenanstalten“ auch nach dem Stopp der „Aktion T4“ eine aktive Rolle im Krankenmordprogramm des NS-Regimes hatten. Es wurde sichtbar, dass es sich lohnen wird, die an der Fremdnutzung der Anstalten – und damit an der Verknappung des Lebensraums für die psychisch Kranken – interessierten Akteure in ihren Konkurrenz- und Kooperationsverhältnissen genauer zu untersuchen. Debattiert wurde zudem, inwiefern der Täterterminus „Zwischenanstalten“ diese umfassende und aktive Rolle in der NS-„Euthanasie“ adäquat fasst. Zugleich wurde deutlich, dass ein Mehrwert der Beschäftigung mit den „Zwischenanstalten“ darin besteht, den Fokus von der Organisation des Tötens zu den traumatisierenden Lebensbedingungen in den psychiatrischen Versorgungseinrichtungen zu verschieben. Die Tagung schloss mit einem Appell zur Ausweitung der Forschung auf die Nachkriegsjahre.
Lea Lachnitt, Marburg