„Die „Alte Universität" von Marburg

Der „Kapp-Putsch“ in Marburg

Im März 1920 planten studentische Zeitfreiwillige einen Umsturz in Marburg.

Im Oktober 1919 veranlasste die Reichswehrbrigade 11 in Kassel in Zusammenarbeit mit der Universität Marburg die Aufstellung eines studentischen Zeitfreiwilligenverbands. Vor dem Hintergrund der im Versailler Vertrag festgelegten Reduzierung der Streitkräfte sollte das neu zu schaffende Studentenkorps „nur für den Fall dringender Not und Gefahr“ eingesetzt werden, „wenn die Kräfte der Polizei und Reichswehr nicht mehr ausreichen und die Not so groß ist, dass jeder ordnungsliebende Deutsche von selbst und ohne besondere Verpflichtung dem Vaterland zu Hilfe eilt.“ Die meisten der Marburger Verbindungen traten dem „StuKoMa“ (Studenten-Korps-Marburg) bei, eine Ausnahme bildeten die jüdischen Studentenverbindungen, die nicht aufgenommen wurden. Im Schutze der Dunkelheit stattete das Marburger Jägerbataillon heimlich die Studenten mit Waffen, Munition und Maschinengewehren aus.

Als am 13. März 1920 in Berlin der sogenannte Kapp-Putsch begann, mit dem die demokratisch gewählte Regierung gestürzt werden sollte, befahl die Reichswehrbrigade zunächst die Alarmbereitschaft für das Studentenkorps, „da man einen Sturm der Kommunisten auf die Häuser befürchtete“, nahm den Befehl aber nach zwei Tagen wieder zurück, „da die Brigade den Studenten ihrer nationalen Einstellung wegen nicht traute.“

Es gab in Marburg große Vorbehalte gegenüber den bewaffneten Verbindungsstudenten. Der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann (1899–1976), der in Marburg Rechtswissenschaft, Volkswirtschaft und Geschichte studierte, notierte am 13. März über ihren möglichen Einsatz in seinem Tagebuch: „Sollen diese reaktionären Studenten unsere Republik schützen? Die Vertreter der Arbeiterschaft stellen den sofortigen Generalstreik in Aussicht, wenn die Studenten aufgeboten werden.“

Zu diesen „reaktionären Studenten“ gehörte der ehemalige Fregattenkapitän Bogislav von Selchow (1877–1973), der seit 1919 in Marburg Geschichte studierte. Die Nachrichten aus Berlin erschienen ihm als „außerordentlich günstig“. Während Heinemann sich nach dem Eintreffen der Nachrichten über den Kapp-Putsch unverzüglich auf den Weg nach Kassel machte, um dort im Auftrag der demokratischen Parteien die Entwaffnung der Studenten zu erreichen, begann von Selchow gemeinsam mit einigen anderen Studenten, heimlich einen Aufruf der neuen Regierung zu vervielfältigen und in der Stadt zu verbreiten. Da die Druckerei einen Nachdruck verweigert hatte, mussten sie den Text mit Schreibmaschinen abtippen.

Am 16. März wurde von Selchow zu einer Besprechung in das Verbindungshaus der Hasso-Nassovia gebeten, „da die Lage der Studentenschaft kritisch geworden sei“ und auf Demonstrationen – an denen sich neben Arbeitern auch republikanisch gesinnte Studenten beteiligt hatten – die Entwaffnung des StuKoMa gefordert wurde. Es hieß, die Demonstranten beabsichtigten die Ausrufung einer Räteregierung und es gäbe Informationen, „kommunistische“ Arbeiter aus Kassel planten einen Überfall auf Marburg. Es sei daher der Augenblick gekommen, „das marxistische Joch abzuschütteln“. Für diese Aufgabe brauchte das Studentenkorps einen geeigneten Führer und die Wahl fiel auf von Selchow. Am darauffolgenden Tag, einem Mittwoch, traf ein Militärflugzeug mit Vertretern der Regierung Kapp in Marburg ein, die von Selchow aufforderten, sich „bis spätestens Sonntag in Besitz von Hessen zur setzen.“

Heinemann hatte zwar in der Zwischenzeit die Entwaffnung durchsetzen können, doch wurde der Befehl nicht umgesetzt. Von Selchow erklärte sich nur bereit, die Waffen abzugeben, wenn auch die Arbeiter entwaffnet werden würden. Den Versuch des Kommandeurs des Marburger Jägerbataillons, von Selchow zu verhaften, da eine „Nebenregierung“ nicht geduldet werden könne, konnte dieser erfolgreich abwehren: „Überlegen Sie sich mal, wenn einer von uns beiden den andern verhaften läßt, wer das wohl sein würde. Sie haben 300 bewaffnete Jäger, von denen Sie nicht wissen, wieviel im Ernstfall zu mir übergehen werden. Ich habe 1800 bewaffnete Studenten, meist Offiziere, von denen bestimmt keiner zu Ihnen übergehen wird.“

Auch wenn die Planungen für einen Umsturz liefen, sollte nach außen das Studentenkorps weiterhin als neutral erscheinen. Am Donnerstag erreichten die ersten Nachrichten aus Kassel Marburg, dass Kapp nach Schweden geflohen sei, aber von Selchow schenkte ihnen keinen Glauben. Vielmehr beschloss er, am Freitag zuerst Marburg und anschließend am Sonntag Kassel einzunehmen. Ein detaillierter Plan legte fest, welche Studentenverbindung welche Gebäude besetzen und Straßen sperren sollte. Zudem sollten alle öffentlichen Gelder beschlagnahmt und die jüdischen Banken besetzt werden.

Die Pläne wurden hinfällig als am Freitagmorgen, dem 19. März, das Scheitern des Kapp-Putsches in Marburg bekannt wurde. Von Selchow war „tief erschüttert. […] Schwarz-rot-gold, die Juden, die Demokraten, die Kapitalisten, die Liberalisten, die Versaillesunterzeichner, diese ganze elende, knechtische Brut hatte gesiegt.“ Sie hätten nicht gesiegt, „weil die Kraft und das sittliche Recht auf ihrer Seite gewesen“ sei, sondern nur, weil der Umsturz nicht genügend vorbereitet gewesen sei. Weder sei das Geld der Reichsbank beschlagnahmt noch die Mitglieder der Regierung verhaftet worden. „Wer einen Staatsstreich machen will, muß doch vorher die Handschuhe ausziehen. Der muß mit nackten Händen zupacken, sogar auf die Gefahr hin, daß Blut fließt,“ schrieb er in seinen 1936 veröffentlichten Erinnerungen.

Von Selchow löste das StuKoMa daraufhin auf – nur wenige Stunden später wurde es jedoch wieder ins Leben gerufen. Das Jägerbataillon und das Studentenkorps sollten nach Thüringen ziehen, das Vaterland sei in Gefahr, „bewaffnete Banden durchziehen raubend und plündernd das Land,“ hieß es in einem Aufruf der Reichswehrbrigade 11. Schon am nächsten Tag brachen sie nach Thüringen auf.

Am 25. März 1920 erschossen Mitglieder des StuKoMa bei Mechterstädt 15 gefangengenommene Arbeiter „auf der Flucht“. Der Kommandeur des Bataillons war Bogislav von Selchow.

Stefanie Funck

Quellen:

Bogislav von Selchow, Hundert Tage aus meinem Leben, Leipzig 1936, S. 309-323

Gustav W. Heinemann, Wir müssen Demokraten sein. Tagebuch der Studienjahre 1919-1922, München 1980, S. 46-50

UniA Marburg, 305a, 8485, abgedruckt in: Dietrich Heither / Adelheid Schulze, Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland, Berlin 2015, Dokument 6, S. 414

Hersfelder Tageblatt Nr. 66 vom 20.3.1920

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